scheitern(hoch)x


gedanken aus der hocke

für alles liegt inzwischen eine statistik mit prognosen vor. dem wahlvolk wird erklärt, wen es strategisch zu wählen hat, den unternehmen und börsianern, ob es auf- bzw. abwärts geht, und den verbrauchern, was sie zu kaufen haben.

 
es ist kein ende abzusehen. mit jeder olympiade werden weltrekorde überboten. dank besserer technik, verstecktem doping und penibler mess-methoden.
 

doch wie sehr kann man willentlich herunterkommen und wie sehr dabei verwahrlosen? sobald jemand wie ein loser zu leben vermag, ist er eigentlich keiner mehr.
 

selbst wer nichts zustande bringt, sich nicht verwirklichen kann oder will, muss sich bis zur völligen verausgabung erschöpfen. der verlierer ist eine parodie des helden.
 

modifizierter Cioran: ich kann mir am besten vorstellen, wie man selber verkommt. aber ich kann es mir nur vorstellen.
 

wollen, wenn man nicht muss, ist nicht nur am wochenende unnötig. wie absichtslos ein montags-blues sein kann.
 

über was man sich nicht alles grün und blau ärgern kann: über unverschämte manager-gehälter, über blöd anmassende recht-schreibreformierungen, über das victory-zeichen eines feisten bankdirektors... aber was bedeutet es schon, wenn jemand die faust ballt, wo das anything goes herrscht. irgendwann wird die wut im bauch nichts anderes als ein sod-brennen sein.
 

einem jeden seine klagemauer mit einem traum von einem abgrund. wer wenig zu verlieren hat, der steht mit einer null-perspektive über den dingen. an tagen, an denen man nicht verkommt, sondern bloss vorkommt.
 

Bruce Nauman: wenn mich eine schwäche deprimiert und ich einer situation hilflos gegenüberstehe, versuche ich meinen überdruss noch zu steigern.
 

Bazon Brock: tief in mir gibt es eine sehnsucht nach einer grossen sintflut. genau dort, wo mein gewissen schlägt.
 

es dauert meist nicht lang, bis auch die guten seiten von katastrophen erkennt, ihre positiven aspekte in einer vita gschätzt werden.
ein fiasko ist oft die unverschämtheit eines augenblicks.
 

"verlieren heisst siegen, wenn man es versteht, erfolgreich zu scheitern" - wer aber glaubt, dass sein scheitern der beginn eines grossen durchbruchs ist, wird früher oder später auch auf die misserfolge anderer menschen neidisch sein.
 

lieber im traum eine ratte im darm ertragen als nach dem aufwachen eine fliege im frühstückskaffee. wann immer mir ein missgeschick passiert, versuche ich mir einzureden, dass es mich hätte schlimmer treffen können. die begabung, sich ein völlig überzogenes unheil auszumalen, kann ungemein beruhigen.
 

wer seinen ehrgeiz aufgegeben hat, führt einen beharrlichen kampf gegen sich selbst. und zunehmend gegen jedes selbst, um sich im verzichten einrichten zu können.
 

elektronische geräte werden immer häufiger mit einem kurzen verfallsdatum verkauft. man soll als konsument fortwährend auf dem neuesten stand sein, damit der fortschritt weiter fortschreitet.

 
wenn man sich für die schlechtere variante, den langweiligen job oder ein profanes bestseller-buch entscheidet, dann nicht, weil man zu schnell resigniert, sondern um einen berechtigten grund zur klage zu haben.
 

schlimm, schlimmer, am besten schlimm. meine fortschritte bei kleinen und grossen lebensniederlagen, nach einiger zeit heben sie sich gegenseitig auf.
 

der humanist Erasmus von Rotterdam genoss als ratgeber ein ansehen wie sehr wenige zu seiner zeit. er erhielt von fürsten, gelehrten und kardinälen briefe, die sich bei ihm im laufe der jahre stapelten. als mit der reformation die grossen unruhen ausbrachen, baute er sich aus seinen korrespondenzen ein schutzschild und wurde zum biederen stubengelehrten.
 

"ein tiefer fall führt oft zu höheren glück."
Shakespeare
 

was hat man von menschen zu halten, welche mit einem schlechten personengedächtnis und steten zuspätkommen
lediglich als geprellte bestehen können?
die sympathie, die man für sie empfindet, ist immerhin ein wundersames gefühl.
 

die erfolgreichen und die zu wenig erfolgreichen menschen im fernsehen. und dann noch die überwiegende mehrheit davor.
 

Roland Barthes: dass ich nicht an mich glaube, kränkt mein selbstbewusstsein. doch lässt mich jene schwäche gleichfalls an jene denken, denen eine solche häresie nicht gegeben ist. sie kennen nicht die gründe für ihr aufbegehren.
 

das scheitern an sich und für sich, wenn es einen sinn ergibt.
der erfolgsverwöhnte mensch kann ein desaster nicht allzu lange ertragen, ohne sich etwas darauf einzubilden.
 

Simone Weil: in einer gesellschaft des sozialen friedens sind es nicht die existentiellen sorgen und nöte, eher die bagatellen, unter denen gelitten wird. und dies wiegt umso schwerer. gegen die kleinen übel wehrt man sich nicht mehr.
 

"die zahl aller übel, die alle lebewesen potentiell erleben können, ist durch die zahl möglicher zustände, in denen das sichtbare universum sich befinden kann, nämlich 10 hoch 10 hoch 123, nach oben begrenzt...", lässt Alexander Kluge in seinem buch "die lücke, die der teufel lässt" einen wissen-schaftler erklären.
 

man kann persönliche schwächen nicht aufrichtig bekennen,
und man kann sie ebenso wenig dauerhaft verschweigen. also spricht man über sie in einem beredten schweigen, das die verallgemeinerung sucht oder in ein unzulänglichkeites sprechen flüchtet.
 

das eigene versagen ist häufig weniger demütigend als die entschuldigungen, mit denen man es zu erklären versucht.
wer seine grenzen kennt, der kapituliert lieber rechtzeitig. er kapituliert vor jeder kapitulation.
 

"always crashing in the same car."
David Bowie
 

die lernfähigkeit der kernenergie: AKWs wurden nach dem
GAU in Tschernobyl nicht schrittweise abgeschaltet, sondern vermehrt perfektioniert.
 

diese sicherheit im schwanken zwischen verwegenheit und ängstlichkeit. an einer vorstellungskraft leiden, welche jedes unglück schon im voraus relativiert.
 

wer den boden unter seinen füssen verliert, verliert als mensch seine originalität. er reagiert zwangsläufig so wie alle anderen. er sucht nach einem akzeptablen sinn, nach einer allgemeinen bedeutung für seine niederlagen.
 

die frau, die sich Michaela nennt und ihr betteln mit einem verwesungsgeruch allen in der u-bahn derart unter die nase reibt, so dass ihr niemand kleingeld gibt. manchmal sehe ich sie als eine potentielle selbstmordattentäterin und manchmal schäme ich mich für diese vorstellung.
 

"mitunter überwältigt mich der genius loci dermassen, dass
ich monatelang am tisch sitze, mit hängenden schultern und gesenktem kopf."
Imre Kertész
 

alles, was man sich vorstellen kann, ist nichts im vergleich zu dem, was man sich nicht vorstellen kann. man geht nicht zugrunde, ohne gleichzeitig seine selbstwahrnehmung zu untergraben. es gibt kaum ein erlittenes scheitern, dass sich authentisches beschreiben lässt.
 

etwas fehlt ständig und so geht nichts auf.
an unerreichbaren katastrophen schiffbruch erleiden.
das scheitern als ein sprung ins nirgendwo.
 

die macht des vielzitierten Sisyphos: für ihn muss sich immer die schwerkraft unter beweis stellen.
 

könnte man einmal gesagt haben, dass alles was der fall sei, nur ein beispiel des möglichen ist?
je kühner sich ein paradox über das scheitern formulieren lässt, umso treffender erhellt es das menschliche unvermögen zum scheitern. die verleugnete niederlage ist manchmal die einzig erreichbare form des scheiterns.
 

die erkenntnis, wieder übertrieben, arg überzogen reagiert zu haben, nachdem der schreck nachlässt.
ES GIBT ABGRÜNDE, DIE IHRE TIEFE FÜR IMMER BEWAHREN.