überflieger in spe
einen Anwalt als juristischen Beistand hat er bisher nur für eine Scheidung beansprucht. obwohl kein Streit und keine Versorgungsansprüche zu klären waren, blieb jener obligatorisch. es ging einzig um die Bestätigung einer Trennung zweier Menschen, die einander noch wohlgesonnen wieder eigene Wege gehen wollten und das ohne Querelen jedem Richter selbst erklärt hätten. aber dies darf nur ein Advokat. kulanter Weise hat bei seinem geringen Einkommen der Staat die Kosten übernommen, er musste nur ein Berater-Honorar für diesen Hinweis an den unfreiwilligen Anwalt zahlen.
sein Rechtsempfinden hat ihn bislang vor dem Kadi bewahrt und bei Verfehlungen anderer reichte es aus, mit einem Prozess zu drohen. sie gaben dann nach, so dass man sich mit Anstand aussergerichtlich einigte. er hat Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts gelesen und, um Eindruck zu schinden, weist er bei passender Gelegenheit darauf hin, dass erpresserische Ansprüche sittenwidrig seien. man muss nicht Jura studieren, um sich selbst verteidigen zu können, und wer es für einen Lebensberuf erwägt, will zumeist viel Geld verdienen. die Studierenden jener Fakultät sind dementsprechend arrogant. sie meinen, aufgrund ihres Numerus clausus eine auserwählte Kaste zu sein. dabei lässt ihnen ihr Studium kaum Zeit für eine umfassende Bildung. sie haben wenig Ahnung von Philosophie, Kunst und lesen selten wissenschaftlich Transzendierendes, stattdessen vorwiegend Fallbeispiele für die Interpretation von Gesetzestexten. damit konkurrierende Kommilitonen das Nachsehen haben, werden Lehrbücher in Uni-Bibliotheken versteckt oder Seiten herausgerissen. für das wichtige Staatsexamen bekommt jeder Punkte, wobei die Höchstzahl unerreichbar bleibt. als fleissig, extrem notenhörig und im Privaten dröge Streber sind Jura-Studenten nach dem Studium wie erfolgreiche Künstler sehr abgeklärt positioniert. jedenfalls gegenüber den nicht in ihrem Fach beschlagenen.
die kreative Phantasie bleibt der Rechtskunde gleichwohl überlegen. solange es bloss Kunst ist, kann heftigst provozierend operiert werden und Performer wie Jonathan Meese zeigen sogar den Hitlergruss auf Bühnen. das verhinderte bisher kein Staatsanwalt. während Juristen wie Politiker an moralische Bedenken oder Ethik-Kommissionen gebunden bleiben, darf das kreative Genie sich dank der im Grundgesetz verbrieften Kunstfreiheit über moralische Schranken hinwegsetzen und muss es zuweilen, um in der Öffentlichkeit beachtet zu werden. im Zweifelsfall befindet sich die Rechtssprechung in einem Dilemma. sie hat über etwas zu urteilen, das sie nicht so einfach definieren kann, ohne erst klarzustellen, ob etwas Kunst und was überhaupt derzeit Kunst sei. da Juristen in den seltensten Fällen davon eine fundierte Ahnung haben, bleibt der Künstler in einer demokratischen Gesellschaft vogelfrei. lösen seine Provokationen zu wenig aus, sehnt er sich nach einem ordentlichen Prozess, der für eine gehörige Aufmerksamkeit sorgt.