überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

er bewegt sich zu wenig, er sitzt zu viel. lange war es in der Öffentlichkeit Würdenträgern vorbehalten, der gemeine Stand hatte sich mit Stehplätzen abzufinden. und so stand im Althochdeutschen das Wort Stuol für Sitz im Sinne von Thron, der ein repräsentativer zu sein hatte. inzwischen sitzt jeder seine Zeit ab bzw. aus, ob im Büro, in Wartezimmern, im eigenen Auto, im Fussballstadion oder anderswo. und das macht krank, selbst wo ein ergonomisch geformter, frei verstellbarer Niederlass vorliegt. bei ihm ist es ein harter Küchenstuhl, auf dem er Einfälle notiert. sein Denken bevorzugt eine unbequeme Position, die wach hält.
doch vor vier Monaten hat es ihn im unteren Rückenbereich erwischt, genau genommen sein Iliosakralgelenk, das kurzweilig blockierte und seitdem für Schmerzen sorgt. damit sich die Nerven wieder beruhigen, muss er das Sitzen reduzieren. mithin Leseamt, das Schreibamt und das Korrespondieren sich nicht einfach auf ein Stehen (ohne Stehpult) und Liegen (ohne Ottomane) übertragen lassen, ist jenes Vorhaben schlecht umzusetzen. er beansprucht hochsensibilisiert wie eine Prinzessin auf der Erbse mindestens zwei Kissen zum Arbeiten und Pausen für gymnastische Übungen. trotz Röntgenbild und professionellem Beistand von einem Orthopäden ist die genaue Ursache nicht eruierbar. eine teure Computertomografie hat er abgelehnt, um seine Krankenkasse nicht übermassen zu belasten. sie erhöhen dann noch mehr die schon hohen Beträge. ein preiswerter Physiotherapeut streckt alle drei Tage seine Wirbel und hofft, Eingeklemmtes zu finden. es werden beharrlich Triggerpunkte bearbeitet, Verhärtungen im Muskelstrang geknetet und der Thearapeut schweigt angenehmer Weise dazu. ein anderer würde ihn über Defizite aufklären und ausführlich erklären, dass man seinem Körper dankbar sein müsse, weil er auf einen falschen Lebensstil hinweist. aber er weiss auch ohne Belehrung, ein Risiko für Kreislauferkrankungen und Haltungsschäden ist bei Menschen wie ihm, die beständig am Computer arbeiten und stundenlang in Bibliotheken lesen, recht hoch.
seine Gepflogenheiten wird er nicht grundsätzlich, nur ein bisschen ändern. das Sitzen generell einzuschränken geht leider nicht. anzustreben ist das Dasein eines umtriebigen Peripatetikers, der von einer Bibliothek in die nächste pilgert. die assoziierbaren, weiterführenden Gedanken kommen dann nicht vor einem Bildschirm, sondern beim Gehen. oder in den zahlreichen noch bestehenden Buchläden, wo er stehend ausliegende Neuerscheinungen querliest. das Umherwandeln wird durchgehalten, bis die Beine schmerzen und nach einem Polster in einem Café verlangen. letztendlich ist das täglich zu meisternde Leben eine Sache von auszubalancierenden Gewohnheiten und am Ende schlimmstenfalls ein altersschwaches Liegen mit der Pflegestufe zwei oder drei.