überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

was einem alles entgehen kann, selbst wenn man es genau vor den Augen hat. für Details und vor allem das Kleingedruckte benötigt er seit zwei Jahren die Dioptrien einer Lesebrille. seine ersten Linsen, die ihm seine Eltern mit einem Optik-Baukasten zum zehnten Geburtstag schenkten, waren höher proportioniert und sollten das Interesse für einen Ingenieur-Beruf wecken, und es gelang ihnen nicht. aber mit dem Optik-Baukasten konnte er sich wahlweise ein Mikroskop oder ein Fernrohr zusammenstecken. durch letzteres inspizierte er in klaren Abendstunden den Mond und, nachdem es langweilte, die offenen Fenster der gegenüberliegenden Nachbarschaft. profan Kleinteiliges wie den Schmutz unter seinem Fingernagel versuchte er mit dem Mikroskop zu ergründen. aufregend wurde es, als er borstige Milben in Staubflusen entdeckte, von denen unzählige in seinem Kinderzimmer herumwuselten. und da er auf den Geschmack gekommen war, züchtete er sich für weitere Untersuchungen in Petri-Schalen Schimmelpilze, die sich wie Blumen bizarr ausformten und seine Mutter überhaupt nicht begeisterten.
zwischen dem Makrokosmos einer intimen Nachbarschaft und einem Mikrokosmos von sporigen Parasiten lag in seiner Kindheit das profane Alltägliche. als Tagträumer hat er diesen Bereich gern ausgeblendet und dementsprechend leidlich bewältigt. der Metaphysiker Lotze hat in seinem dreibändigen Mikrokosmos die Welt ausführlich als konstituierte Sinnganzheit beschrieben, in die Menschen als Fremde hineingestellt sind. da das absolute Sein als höchstes Gut auch für ihn im Alltäglichen nicht überzeugend waltete, griff er auf den Wert-Begriff aus der Nationalökonomie zurück. er wollte das Seiende qualifizieren, damit alles im täglichen Miteinander einen Wert hat und eine entsprechende Geltung beanspruchen darf.
so sollte es auch für die Arbeitsleistungen eines Künstlers gelten. dann müssten Ergebnisse um keine Geltung buhlen und immer ausgefallenere Strategien entwickeln, mit denen sie sich gegen konkurrierende Angebote prononcieren. es reicht nicht, wenn eine Kunst beeindruckt, sie hat populär zu sein, damit sie eventuell, wie ihm unlängst ein Steuerberater empfahl, Gutverdienern so interessant erscheinen, dass sie Bilder als Ausgabe beim Finanzamt deklarieren wollen. dafür mag er sich freilich nicht hergeben. der einstige Ruhm, den er mit hyperdimensionalen Chaos-Strukturen in Kompositionen erreichte, ist verblasst und kaum noch bekannt. im reifen Alter stemmt er nicht mehr viel und brütet nicht nächtelang über Probleme. er schont verbleibende Ressourcen, wo es geht, und legt Wert auf Präzision. bis zum 30. Lebensjahr wurde vieles exzessiv ausgelebt, danach aufgeschrieben oder in Bildern imaginiert und seit einiger Zeit nur noch resümierend interpretiert. seine Arbeiten werden perfekter, also einfacher und weniger. das Bauchgefühl meidet aus Rücksicht auf weitere Abwicklungen das Schwierige und das sehr Schwierige wie allzu Seichte generell.