überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

er ist in einem geistig beengenden Milieu aufgewachsen. in seinem Elternhaus gab es keine schöngeistige Literatur, nur zur Zierde der Schrankwand ein zweibändiges Universallexikon und einen Bildband über den Spreewald. sein Vater hatte in seinen Schubladen noch Fachbücher für den Elektromonteur gelagert, die er ihm für später empfahl. er hat sie trotzdem durchgeblättert, las aber bevorzugt Romane mit inspirierenden Geschichten, nämlich aus Bibliotheken ausgeliehene. er frass sie regelrecht auf in einem kleinen Kinderzimmer, das er mit seiner Schwester teilte. in die Lesewelten von Jules Verne und die Indianer-Hexalogie von Liselotte Welskopf-Henrich zog er sich zurück und war da unerreichbar für andere Lockungen. seine Kindheit war eine abgekapselte Fiktion.
hatte er ein Buch ausgelesen, wurde sogleich nach weiterem Lesestoff sogar im Altpapier gesucht, und zu Dutzenden fand er ihn hier zerfleddert und mit herausgerissen Seiten. es waren Kundschafterromane darunter oder Machwerke des sozialistischen Realismus von Eduard Claudius, welche ideologisch verbrämt für den Geist einer kleinkarierten Weltanschauung erziehen sollten. ausdauernd hat er sie durchgeschmökert, so als müsste später Kunde gegeben werden von einer merkwürdigen Zeit. selbst als das Literaturangebot besser wurde und der eigene Geschmack anspruchsvoller, konnte er sich nicht von schlechten Büchern trennen. er las sie immer in der Hoffnung auf eine sinngebende Wendung oder um dem Autor auf die Schliche zu kommen. vielleicht wollte er sich, wie es heute bei Serienjunkies üblich ist, ein Durchhaltevermögen beweisen.
während der Abtiturzeit sammelten sich in seinem Bücherregal neben drögen Romanen von Erwin Strittmatter, Johannes R. Becher und Hermann Kant ebenso die Verfassung der DDR. das wurde sogar von der Stasi dokumentiert, da jene mit zahlreichen Anstreichungen versehen war. darüber hinaus landeten hier ein historisch dialektischer Materialismus, ein Band Stalin und Schriften von Lenin. oder es waren anregende Autoren der Weltliteratur, deren Namen er nicht richtig aussprechen konnte. er musste erst Französisch, Spanisch zu lernen beginnen und irgendwann Latein, um fremde Fremdwörter zu verstehen. alles Gelesene stapelte er, lieh weniger aus und kaufte sich den besseren Lektürestoff bevorzugt als billige Taschenausgaben. solange ihn ein Text fasziniert, blieb die Zeit stehen. er befand sich in einem unerreichbaren Abseits. zeit seines Lebens hat er sich abgeschirmt, ohne je der trügerischen Position einer Überlegenheit zu erliegen. hoch sensibilisiert wollte er zu keiner Mitte vordringen, lieber wie ein Ingenieur in einem Atomkraftwerk den brodelnden Kern von Aussen betrachten.