überflieger in spe
das Alter ist schmerzresistenter und der männliche Körper wegen beharrlicher Klischees sowieso. Frauen meinen, dass deswegen ein Mann eine geringere Lebenserwartung hat. es wird bei Unpässlichkeiten zu lange gewartet und eines Tages ist es zu spät. der Krebs hat sich von der Prostata ausufernd im Körper verteilt oder der Kreislauf befindet sich wegen schlechter Blutwerte in einem irreparablen Zustand. bei ihm noch nicht und so darf ihn erst ein Doktor begutachten, wenn bedrohliche Symptome vorliegen. dies gilt freilich nicht für die jährliche Prophylaxe beim Zahnarzt. seitdem er einige Zähne verloren hat, versäumt er die Untersuchung nicht mehr. schmerzt es irgendwo, wird er sofort vorstellig und setzt sich dem unangenehmen Bohren ohne Spritze aus. er verzichtet darauf, weil ihn die Taubheit der Lippen stört und er danach keine Pfeife rauchen kann. das kurzweilige Ziehen im Wurzelnerv ist im Vergleich zum Tabakverzicht ein Klacks und im reifen Alter kann es ertragen werden, nachdem schon so einiges ertragen wurde.
mit weniger Empfindsamkeit ist auch manche Tristesse auszuhalten. das war bei ihm nicht immer so. in der Schule litt er unter einer Langeweile, wenn der Unterrichtsstoff langatmig wiederholt wurde oder politisch verbrämt ausfiel. noch langweiliger wurde es in den Sommerferien, da die verreisten Freunde fehlten und das Fernsehen mit seinen Wiederholungen wenig Abwechslung bot. er ging dann in die städtische Badeanstalt, wo vielleicht jemand Bekanntes anzutreffen war, der sich gleichfalls langweilte. war es nicht der Fall, döste er dort einfach mit einem Buch in der Sonne. es gab einen 10-Meter-Sprungturm und Mutige, die aus dieser Höhe einen Kopfsprung wagten. sie konnten vor ihrer Freundin mächtig angeben. ihm waren fünf Meter schon zu viel und ausserdem hatte er keine Freundin. herunterspringen musste er trotzdem einmal, nachdem der Turm neugierig erklommen wurde. da die Treppe eine ganz schmale war und sie Nachfolgende blockierten, stürzte er sich trotz Höhenangst in die Tiefe. er landete mit ausgebreiteten Armen schmerzhaft im Wasser.
derweil es an richtigen Abenteuern fehlte, erträumte er sich in der einsamen Ferienzeit eine abenteuerliche Zukunft. er wurde zu einem Erfinder von später zu erlebenden Geschichten, in denen er die Hauptrolle spielte. als Naturforscher umsegelte er wie Darwin die Welt oder es wurden für exorbitante Reisen Raumschiffe entworfen, welche verwegener als in der Serie "Star Trek" Raum und Zeit durchdrangen. Jahre später entdeckte er für seine Höhenflüge die Philosophie und begann neben Deleuze und Derrida auch Heidegger zu lesen, für den langweilige Zeiten die Abgründe des Daseins darstellen, einen schweigenden Nebel vergleichbar, der alle Dinge in eine Gleichgültigkeit offenbar zusammenrücke. als bekennender Existentialist erhoffte er sich, dass die erlittene Leere ihm Grundlegendes offenbaren würde. er war bereit, sie in ihrem tragischen Ganzen durchzustehen, was ihm nicht ohne imaginäre Luftschlösser gelang.