überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

drei Tage hat er mal in einer engen Zelle ausharren müssen. kurz vor seiner Entlassung aus dem Soldaten-Dasein wurde er zu jener Strafe verdonnert, nachdem er einem Befehl zum ausserordentlichen Appell ungemein langsam nachkam. er wollte vorher ein Eis aufschlecken und war nicht der einzige, der überdrüssig vom Dienen träge reagierte, aber gerade greifbar für ein abschreckendes Exempel. der Arrest erwies sich für ihn als Glücksfall. er entging den Alkoholexzessen der Entlassungskandidaten in den letzten Nächten. all ihren angesammelten Frust ertränkten sie im Hochprozentigen, um völlig überdreht das Ende in der Kaserne zu feiern. arretiert konnte er davon ungestört Zeitungen lesen und sich auf das Kommende einstimmen, in einer sehr kleinen Zelle mit einem Klappbett, so wie man sie aus alten Filmen kennt.
der populäre Künstler Gregor Schneider denkt sich solche klaustrophobischen Raumsituationen aus, um sie einem Vernissagen-Publikum als kurzweiligen Kick anzubieten. er hatte es drei Tage sowie drei Nächte, und die letzten 24 Stunden wegen einer Überbelegung mit einem Zellengenossen auszuhalten. das Arretiertsein wurde gleichwohl nicht als eine ernsthafte Strafe empfunden, da der Knast in seinem Regiment nicht das schreckliche Militärgefängnis in Schwedt war. von jenem hatten die Einberufenen Unheimliches gehört und er besonders viel, da auf seiner Stube ein ehemaliger Insasse in Alpträumen und manchen Tagen ausführlich von den dortigen Zuständen Auskunft erteilte. er durfte es genau genommen nicht, oder vielleicht doch zur allgemeinen Abschreckung.
damit Ängste nicht lähmen, braucht es als Pendant die Illusion der Freiheit. in Ost-Berlin, wo Wege durch die Stadt irgendwann an einer hochgesicherten Sperrmauer endeten, war dies notwendig. wer im Prenzlauer Berg wohnte, musste Spaziergänge dementsprechend disponieren. die System-Grenze blieb, während jeder mal mit dem Auto oder im Fernzug haarscharf an ihr vorbeifuhr, als harte Betonwand ein Faktum des Horizontalen, das sich mit dem Idealen einer besseren Gesellschaft nicht vereinbaren liess. sie war schwer zu akzeptieren, denn vom Fernsehturm als vertikales Pendant hatte man einen weiten Blick auf das verlockend bunt schillernde Westberlin.
das kollektiv Ostdeutsche war mit jener Perspektive ein latenter Nährboden für einen aufmüpfigen Freiheitsdrang. als unterdrückte Eigentlichkeit wurde dieses Streben zu einem intensiven Bedürfnis und versuchte sich, radikaler als in einer egalisierten Gesellschaft zu entfalten. hier lebt sich der etablierte Bürger nur frei aus, wenn es wie im Theater mit einer ekstatischen Übertreibung in einer Unerreichbarkeit gelingt, weil das Handy ausgeschaltet ist. während der Pause wird dann wieder fleissig telefoniert. zu viel Freiheit macht ungleich und schürt Unsicherheit. aber wozu beansprucht man überhaupt die Illusion einer unbegrenzten Freiheit? vielleicht, damit man sich im Unverbindlichen noch ein wenig verantwortlich fühlt für das, was man im Plural ist.