mikado als symptom
die Menschen geben sich wieder ganz detachiert die Hand. auch beim Arzt, wo er sie nicht gern berührt, doch wegen dem Vertrauensverhältnis es auch in Grippezeiten muss. bei Partys wird es gern akzeptiert, falls man respektierlich der Ältere ist und wie beim Fussballspielen im Stadion lässig begrüsst wird. das shake-hands steht wieder für Fairness, seitdem der fernsehgene Sport eine Vorbildfunktion innehat. lange Zeit galt der Handschlag als spiessig und das Küsschengeben als modern intim. unter Künstlern, Schauspielern und selbst auf Schulhöfen war es der allgemeine Gruss unter guten sowie weniger innigen Bekannten, genau genommen auch ein Ritual mit einer klar erkennbaren Rangordnung. der Respektsperson wurde zuerst auf die Wange gehaucht und jene deutete dann hoheitsvoll einen Gegenkuss an.
er hatte mit Rangordnungen seit jeher seine Schwierigkeiten und ist froh, dass sich die Sitten geändert haben. in einer atomisierten Gesellschaft werden individuelle Anreden bedeutungsloser, so dass eine joviale Umarmung als Begrüssung genügt. es wird unverfänglich miteinander geredet und selten ein Gegenüber direkt angesprochen. bei entfernten Bekannten reicht als Gruss ein kurzes Zunicken aus, verbunden mit einem saloppen Hallo. es zwingt zu keinen langen Gesprächen, wie er sie jetzt mit einem mürrischen Nachbarn über Fussballspiele langatmig führen muss, nachdem er eines Abends im Übermut ausführlicher gegrüsst hatte. das war ein unbedachter Fehler, so für obligatorisch höfliche Gespräche die Zeit fehlt. er mag kein nettes Herumschwatzen auf einer Party, kein Gelaber an Grillabenden oder an Kneipentischen mit Touristen, die einen Kiezcharme suchen. lieber redet er spontan auf der Agora mit Unbekannten und bevorzugt den sokratischen Dialog. schnell kommt er als zufälliger Gesprächspartner zu einem anregenden Plausch, oder wie neulich zu einem fachsimpelnden Gedankenaustausch über die Anomalie des Wassers, die tatsächlich gar keine ist, da ihr ein falsches wissenschaftliches Modell zu Grunde liegt.
gemeinhin reicht es für den sozialen Abgleich, die morgendlichen Nachrichten im Radio zu hören. hier erhält jeder mit den politischen und wirtschaftlichen Konjunkturdaten ausreichende Instruktionen von antreibend munteren Moderatoren. sie verordnen selbst bei anomalischer Wetterlage eine ansteckend gute Laune. bei wem es nicht wirkt, der schwingt nicht richtig und bekommt einen Fallmanager oder noch Übleres vorgesetzt. das soziale Miteinander ist ein komplexes Unterfangen, das ein Aufstehen mit dem richtigen Fuss, die passable Tageskleidung braucht und für berufliche Lang- oder Kurzpässe den richtigen Takt, wobei sich häufiger die Frage aufdrängt: ob man selbst verrückt ist oder es die anderen sind.