mikado als symptom
muss der Mensch aufrichtig gehen, weil er ein Mensch ist oder ist er erst ein Mensch, seitdem er aufrecht gehen kann? aufrichtig oder aufrecht, eine akkurate Haltung ist auf jeden Fall wichtig. bei ihm stimmt sie seit langem nicht mehr. das unentwegte Lesen hat die Schulter gebeugt. erst eine Physiotherapeutin wies ihn darauf hin und, um einer irreparablen Wirbelkrümmung zu entgehen, empfahl sie eine regelmässige Gymnastik. er übt sie nunmehr fehlerfrei vor dem Spiegel und hofft, dass sich sein Auftreten wegen dem Rückrat und dem respektableren Erscheinen verbessert. es klappt wieder, wenn das Spielbein mit dem Standbein harmoniert, und beim Fussball gelingt es noch, sowohl mit links als rechts Tore zu schiessen. und selbst mit einer schrägen Pose beeindruckt das. ausserhalb des Sports wird die Haltung des Körpers schnell tendenziös interpretiert. jemand mit krummer Schultern gilt dann als traurig, mutlos oder sonstwie negativ. 
seine Haltung wurde bereits in der Schulzeit moniert, nicht nur beim Turnen, auch in anderen Fächern. er war zu vorlaut im Ausprobieren von politschen Meinungen, wenn er frisch Angelesenes argumentativ austeste. Naivität oder jugendliche Hybris hätte man es nennen können. sein Klassenlehrer sah den Grund für sein unangepasstes Verhalten in einer falschen Weltanschauung und wollte dies in das Zeugnis hineinschreiben. man bekam damals neben den Zensuren auch eine jährliche Beurteilung. nachdem er seine nicht akzeptierte, wurde sie nach einer hartnäckigen Einsprache umformuliert, so dass zu lesen war, er würde sich für fremde Weltanschauungen interessieren. das hat er nicht nur billigen können, sondern darauf ist er richtig stolz gewesen. jener Satz hat ihn fast als einen Philosophen qualifiziert, obwohl es bestimmt ein versteckter Hinweis auf ein politisches Fehlverhalten war. einigen Pädagogen in seiner Schule passte nicht, dass er ständig Bücher las und dann noch die von Verfemten wie Stefan Heym oder Adolf Endler, obwohl sie in Antiquariaten verkauft wurden. die politische Haltung hatte sich in einem Millimeterpapier einzupassen und eigene Ansichten dementsprechend auszurichten. 
in einer überinformierten Mediengesellschaft kann allerlei gelesen werden und das Weltbild individuell gestimmt sein. doch da bei einer nicht zu bewältigenden Flut an Bildern und Nachrichten verharrt eine Neugierde im eigenen Dunstkreis, justiert sich die eigene Haltung selbstbezüglicher. es wird nur das erhört, was von innen als Echo hallt oder laut genug von populistischen Demagogen hineinschallt. fremde Botschaften müssen für die eigene Denkweise passend sein, sonst werden sie abgelehnt oder als Angriff verstanden. in dieser Atmosphäre werden kritische Geister zu Brunnenvergifter, das tägliche Kommunizieren ein Dornenwald und die eigenen Bekanntenkreise kleiner.  
