überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

woran erkennt man einen Menschen? in Kriminalfilmen ist es ein genetischer Fingerabdruck, der den Täter überführt. er hat ein Haar hinterlassen oder seine Identität im Sperma verraten. in der DDR wurden falsche Grenzgänger am Ohr identifiziert und als Republikflüchtlinge der Stasi überstellt. die muschligen Faltungen verglichen Kontrolleure mit dem Passbild, die sogar bei Zwillingen anders aussehen. trotzdem schafften es Verwegene, mit einem falschen Dokument kurz vor Mitternacht die streng bewachten Übergänge zu passieren.
nach der Wiedervereinigung sind solche Grenzen für Reisende etwas Imaginäres geworden. man kann seitdem in einem prosperierenden Europa ohne Pass weit verreisen und noch weiter beim Surfen in digitalen Netzen. eine grenzenlose Weite ist eine virtuelle geworden, die Raum für mehrdimensionale Präferenzen bietet. dennoch wird im Medialen mehr das Allgemeinverbindliche gesucht und auf Webseiten das angesteuert, was viele anzieht. will man wissen, warum es so ist, landet man zuvörderst bei psychologischen Pamphleten, die unisono behaupten, dass jeder auf der Suche nach dem Gleichen sei, sich nach liebevollem Sex, wohliger Heimat und einer abgesicherten Zukunft sehne.
die Frage nach individuellen Signifikanzen ist wohl anders zu stellen. eventuell so: woran erkennt man einen Menschen wieder, den man lange nicht gesehen hat? bestimmt weniger an Äusserlichkeiten, eher an der Art, wie er in persönlichen Gesprächen lacht, sein Weinglas anfasst oder die Schultern zusammenzieht. doch solche Gesten sind etwas rares geworden. der sozial funktionierende Mensch ist disponibel wie ein Tischtennisball und in Umbruchzeiten wird er schnell zu einem Wendehals, der tatsächlich ein Vogel ist, welcher seinen Hals, um Feinde abzuschrecken, schlangenförmig verdreht. im Wendejahr 1989 durfte er solche Verrenkungen in der Provinz anthropologisch studieren. Zeitgenossen, die sich staatskonform gegen die illegale Opposition Neue Forum ausgesprochen hatten, wurden plötzlich deren Fürsprecher und riefen am lautesten nach politischen Veränderungen. sie hatten ihren Kopf abrupt um 180 Grad gedreht. so wollte der Leiter einer Stadtbibliothek noch kurz vor dem absehbaren Zusammenbruch der alten Ordnung Mitarbeiter anzeigen, die Flugblätter vom Neuen Forum verteilten. einige Wochen später forderte jener Opportunist, die ihm nicht mehr passenden Marx-Engels-Ausgaben aus den Regalen auszusortieren.
während die meisten nach dem Mauerfall in eine neue Ungebundenheit reisten, blieb er als junger Bohemian in der Heimat. sie war für den aufmerksamen Beobachter Abenteuer genug und das nahe West-Berlin völlig überfüllt. besonders die U-Bahnen, da man sie als Geste des Willkommens kostenlos nutzen durfte (und trotz Begrüssungsgeld gar nicht bezahlen konnte). ein Bekannter hatte sich in Unkenntnis dieser freien Passage zu Fuss durch die Stadt aufgemacht, klapperte auf kilometerlangen Touren die Buchläden und Sehenswürdigkeiten ab, um das erste Westgeld nicht mit teuren Tickets zu verplempern. als ehemaliger DDR-Bürger war er beharrlich in seiner Sparsamkeit, und damit schnell erkennbar geblieben.