überflieger in spe
einen grossen Teil seines Lebens hat er bislang in Bibliotheken verbracht. die erste war eine kleine für Kinder in einem Haus der Pioniere, wo nicht nur Abenteuerbücher wie "Timur und sein Trupp" oder "Alfons Zitterbacke", sondern darüber hinaus die Brehm-Bände ausgeliehen wurden. für die anspruchsvollere Stadtbücherei musste er sich als Elfjähriger bei der Anmeldung um ein Jahr älter schwindeln, und es hat geklappt, so dass er den weiterführenden Darwin zum Lesen bekam. nun sitzt er täglich in Uni-Bibliotheken, und besonders gern im neuen Grimme-Zentrum, das auch am Wochenende bis spät in den Abend geöffnet ist. dort findet er in unzähligen Regalreihen beinahe alles, was sein Herz begehrt. sogar eine alte Gesamtausgabe von Karl Christian Friedrich Krause steht für ihn bereit. dafür toleriert er freiwillig die Störgeräusche von eloquenten Studenten, die vor Prüfungen sich aufgeregt auswendig zu Lernendes zurufen.
während seines Studiums hatte er langwierig in Zettel-Katalogen oder auf Mikrofichen seine Literatur zu suchen, dann Signaturnummern in Ausleihscheinen zu kritzeln (man durfte sich nicht verschreiben), um eine Stunde später einige Bände nach einem Schlangestehen abzuholen. mit ein wenig Glück bekam man das Gewünschte. meist aber nicht, mithin das Begehrte entweder ausgeliehen oder nicht auffindbar schien. zu DDR-Zeiten fiel die Ausbeute am geringsten aus, da die interessanten Bücher in Giftschränken lagerten und erst mit der Sondergenehmigung eines Lehrstuhlinhabers herausgerückt wurden. also für ihn nie. etliches war, weil in labyrinthischen Magazinen schlecht gelagert, nicht greifbar oder die dafür Zuständigen hatte keine Lust auf eine langwierige Suche. das Ausleihen von Büchern konnte ohne Computer ein aufwendiges Prozedere sein und erforderte ein genaues Wissen. in der neuen Berliner Staatsbibliothek umfasste der Zettelkatalog des Altbestandes fast eine Saalgrösse. hier hat er mal einen Virus mit 64 fingierten Karteikarten als eine virtuelle Plastik installiert. seine Manipulation generierte mit ihren angegebenen Querverweisen eine sechsdimensionale Struktur, die sich in der Vorstellung als eine räumliche versinnbildlichte. man musste dafür lediglich auf eine seiner Karteikarten stossen und die aufgelisteten Verweise von Zettelkasten zu Zettelkasten ablaufen.
Bibliothekare haben sich lange gegen das bequemere Recherchieren mit dem Computer gewehrt. entweder trauten sie der neuen Technik zu wenig zu oder sie bangten um ihren Arbeitsplatz. derweil ist es kaum noch vorstellbar, dass sie ohne Software auskommen. zumeist werden keine Bücher mehr geführt, sondern Dateien, um Platz bei Neuanschaffungen zu sparen. irgendwann wird wohl alles derartig angeboten und das gedruckte Werk als Requisit präsentiert, so wie man jetzt antiquierte Zettelkataloge noch zur Zierde behält. für viele Menschen sind nunmehr Bibliotheken Orte für kollektive Projektarbeiten, leidliche Wärmestuben oder einfach Rückzugsgebiete. wer einen freien Platz zum Arbeiten beansprucht, muss früh erscheinen, und falls er eine Kaffee- oder Zigarettenpause einlegt, danach den entwendeten Stuhl zurückklauen. dereinst war es ruhig in den Lesesälen, da vornehmlich Heimatforscher, Promovierende und Bibliophile hier arbeiteten. nur der gebohnerte Parkett-Boden quietschte, wenn jemand auf die Toilette ging.